Dieses Erstaunen ist in mehrerlei Hinsicht naiv. Zum einen unterstellt es, dass die meisten Wähler gerade aus einer Unterrichtsstunde über Bürgerrechte oder den liberalen Rechtsstaat kommen, bevor sie zur Wahlurne gehen. Tatsächlich ist Demokratie aber nicht die Verwirklichung von Vernunft unter Bürgerbeteiligung. Man mag noch so lange darauf hinweisen, Trumps Wähler seien vor allem weiße Männer ohne Collegeabschluss, es mindert diese „Erklärung“ seinen Erfolg um keine einzige Stimme. Im Gegenteil könnte es sein, dass in der Bereitschaft, den merkwürdigen Trump zu wählen, auch die Renitenz derjenigen steckt, die es ärgert, ständig vors Vernunftgericht gezogen zu werden, um sich dort Urteile über ihre Lebensführung anhören zu müssen. Nicht alle diese Urteile sind falsch, aber in der Demokratie gibt es einen ganz einfachen Mechanismus, um auf die ständige Mahnung zu antworten, so jemanden könne man doch nicht ernsthaft wählen: Man wählt ihn trotzdem. Und wählt ihn mit desto größerem Vergnügen, je mehr es die anderen entsetzt.
Zum anderen war die Wahl, in der Kamala Harris die Angreiferin hätte sein müssen, davon geprägt, dass sie die Vizepräsidentin war. Der Amtsinhaber, gegen den man hätte protestieren können, stand gar nicht zur Wahl. Gegen die Vizepräsidentin, die über Nacht zur Kandidatin wurde, ließ sich auch nicht protestieren, denn sie hatte bis dahin ja nicht viel getan. Das allerdings konnte beanstandet werden. Über diese Eigenschaft der Programm- und Ideenlosigkeit von Kamala Harris täuschten sich diejenigen, die allein aus ihren Persönlichkeitsmerkmalen meinten eine politische Hoffnung herauslesen zu können. Harris hatte sich nicht mit Argumenten gegen demokratische Mitbewerber durchsetzen müssen. Für den Wahlkampf eigens welche zu entwickeln fehlte es wohl an politischer Kraft.
Trump hingegen zehrte von seinen wirtschaftspolitischen Erfolgen der ersten Amtszeit und davon, dass der Mitbewerberin keine frischen Perspektiven für das Land zugetraut wurden: dass sie einfach nur als die Frau auftrat, die gegebenenfalls Trump verhindern würde. So wurde die Wahl zum Schaulaufen von Einstellungen zur Welt. Das konnte Trump nur gefallen, denn seine haben, vorsichtig formuliert, ein deutliches Profil. Er ist ein Polarisierungsunternehmer. Insofern war die Wahl vermutlich doch eine Protestwahl, wenngleich der Protest sich nicht so sehr gegen die Regierung richtete, sondern vielmehr gegen die jeweils andere Seite in einem nicht nur politisch polarisierten Land.
Es ist oft beschrieben worden, wie sehr in den Vereinigten Staaten seit Langem nicht nur republikanisch oder demokratisch gewählt wird, sondern auch republikanisch oder demokratisch gewohnt, geheiratet, in die Kirche und ins Kino gegangen, TV-Sender angeschaltet und Nachbarschaftsfeste veranstaltet werden. Es genügen dann Verschiebungen bei den Lebenshaltungskosten, im Zugehörigkeitsgefühl und in der sekundären Bezugsgruppe – mit wem vergleiche ich mich bei der Beurteilung meiner Lebenslage? –, um Wählerwanderungen auszulösen und die Bereitschaft zu erhöhen, einen „krassen“ Politiker wie Trump für akzeptabel zu halten. Man wählt nicht nur eine Partei, sondern eine Lebensweise. Zum Beispiel den Protest gegen Belehrungen. Bei den männlichen wie weiblichen Latinos in den Vereinigten Staaten ist es gerade zu einer solchen Wählerwanderung gekommen.
Zwei Drittel der Amerikaner geben an, ihr Land entwickele sich in eine falsche Richtung. Das ist ein sehr pauschales Urteil. Es beinhaltet das Gefühl, das Gute komme nicht bei den Leuten an. Für die hiesigen Diskussionen über den Zustand des Landes bietet die amerikanische Wahl insofern viel Lehrmaterial.